Protagonistencafé – Teil 5
Das Café am Ende der Geschichte
Rivka starrte die warm-braune Eingangstür des Cafés an, auf der in vergoldeten Buchstaben
KEIN ZUTRITT FÜR AUTOR*INNEN ALLER ART
stand und etwas kleiner darunter: jederzeit geöffnet. Sie konnte es kaum glauben, dass sie das Café tatsächlich gefunden hatte, aber hier war sie. Mit einem Seufzer trat sie ein. Sie war wahrlich urlaubsreif.
Palim palim. Ein Glöckchen über der Tür verkündete ihre Ankunft, aber niemand an den zahllosen Tischen drehte sich nach ihr um. Ihre Hände zitterten. Wie sollte sie sich hier wohl fühlen, wenn sie niemanden kannte. Sie war noch nie allein ausgegangen.
„…дом с ви́дом на мо́ре(*).“ sagte eine helle Kinderstimme. (*) = Haus mit Seeblick oder Haus am See
Ohne lange zu überlegen trat Rivka zu dem Tisch, an dem ein kleines Mädchen in einem viel zu großen, grauen Armeemantel mit einer Mütze mit Ohrenklappen und ein Soldat mit nur einem Arm saßen. Der zweite Arm des Mannes war durch eine Metallkonstruktion ersetzt worden, in der eine seltsame Phiole blau glühte. Das Kind hielt in den Händen einen übergroßen Becker mit Kakao.
„Dem Himmel sei Dank, ihr sprecht Russisch.“ Rivka stellte sich vor, ohne zu erwähnen, dass sie die Tochter eines Zaren war. Sie hatte ihren Eltern versprochen, vorsichtig zu sein.
Das Kind schaute sie erstaunt an, wandte sich dann an den Soldaten: „Siehst du, es kommen nicht nur Dämonen hierher.“
Der Soldat gab keine Antwort. Es sei denn, das leichte Neigen des Kopfes ging als solche durch.
„Ich bin Olga“, stellte sich das Mädchen mit dem Kakao vor, „und das ist Boris. Boris wollte nicht herkommen, ich schon. Hier gibt es heiße Schokolade. Ich mag heiße Schokolade, du auch?“
„Die liebe ich. Leider war ich dafür in letzter Zeit zu beschäftigt.“ Rivka setzte sich. Sofort eilte eine halbdurchsichtige junge Frau herbei und nahm ihre Bestellung auf. Natürlich ebenfalls Kakao. Als sie wieder allein waren, fuhr Rivka fort. „Meine Autorin hat eine Golem-Armee, Dämonen und eine wahnsinnig unglückliche Zauberin auf meine Familie losgelassen. Manchmal hasse ich sie. Ist eure auch so gemein zu euch?“
Olga dachte angestrengt nach, so angestrengt, dass sie dabei das Trinken vergaß.
„So wie der Zar?“, fragte sie.
Ein leichtes Runzeln der Stirn verriet, dass Boris nicht zustimmte.
Olga grinste, beugte sich zu Rivka und flüsterte: „Er ist kein Anarchist, weißt du? Also, noch nicht. Oder besser: Er weiß noch nicht, dass er auch ein Anarchist ist.“ Sie lehnte sich zurück und strahlte ihn an. „Du hast einmal den Zaren gehauen, das habe ich genau gesehen.“
Boris schaute verlegen zur Seite. „Er hatte eine Waffe auf dich gerichtet.“
„Also“, sagte Olga, setzte die Tasse ab und richtete sich würdevoll auf – soweit man würdevoll sein konnte, wenn man nur gerade eben über die Tischkante schauen konnte und auf der Oberlippe ein Schnurrbart aus Schokolade prangte. „Unsere Autorin denkt sich schon manchmal gemeine Sachen aus, zum Beispiel, dass Boris schon als Kind in die Armee kam und gegen Dämonen kämpfen musste.“
„Osmanen“, korrigierte Boris leise. „Keine Dämonen.“
Olga runzelte zweifelnd die Stirn. „Aber im Ausland leben nur Dämonen, das weiß doch jedes Kind …“ Sie zupfte an der Oberlippe und beschmierte dabei ihre Finger, „… aber vielleicht weiß das unsere Autorin nicht. Soll ich es ihr verraten? Ich könnte ihr ein Telegramm malen, ja?“
Sie wartete auf eine Antwort – die nicht kam, entdeckte die Schokolade an ihren Fingen und leckte sie ab.
„Ist deine Autorin manchmal nett?“, fragte sie. „Meine hat dafür gesorgt, dass Boris seine Freundin wiederfindet.“
„Sie muss nett sein, denn sie schreibt für alle Altersstufen und auch Liebesromane.“ Rivka amüsierte sich über den ungebremsten Redestrom der Kleinen. Genau so wünschte sie sich ihre Kinder eines Tages. „Ich hab aber gehört, dass alle guten Autorinnen unberechenbar sind. Und nun erzähl mir mehr von dir.“
Sie lauschte den Worten der Kleinen, die etwas von einem Haus in Sibirien und von einem Bild erzählte, auf dem Boris seinen Arm wiederhatte und von einem Telegramm, dass sie der Himmelstänzerin schicken wollte, was oder wer auch immer das war. Schließlich wurden ihr die Lider schwer und ihr Gebrabbel ließ nach. Boris stand auf und setzte sie vorsichtig auf seinen Metallarm, bevor sie vom Stuhl fiel. Sie seufzte zufrieden und kuschelte sich an seine abgewetzte Armeejacke.
„Danke für die schöne Zeit,“ sagte Rivka. „Pass gut auf sie auf, ja?“
Boris nickte stumm und stiefelte mit Olga im Arm zur Tür.
Rivka dachte an ihren geliebten Nikolaj. Ob er sie schon vermisste? Nun, er würde auf sie warten. Das hatte er schon während der ganzen Novelle getan, da käme es auf die paar Minuten auch nicht an. Lächelnd lehnte sie sich zurück und nippte an ihrer heißen Schokolade.
Geschrieben von Katharina Gerlach und Selma J. Spieweg
Titel: Obsidianherz – Die Schwestern mit den Glasherzen & Jet Balck Heart (5SOS)
Autorin und Bildrechte: Katharina Gerlach
Seitenzahl: 170
Preis eBook: 2,99 € (D)
Preis TB: 6,99 € (D)
ISBN: 978-3956811203
Titel: Tod dem Zaren: Boris & Olga
Autorin und Bildrechte: Selma J. Spieweg
Seitenzahl: 328
Preis eBook: 0,99 € (D)
Preis TB: 9,99 € (D)
ISBN: 979-8609978912
Mehr Informationen den Autorinnen und ihren Büchern bekommt ihr hier:
Homepage Selma J. Spieweg: https://jspieweg.de/buch.php
Homepage Katharina Gerlach: https://de.katharinagerlach.com
Weitere Besuche des Protagonistencafés gibt es hier:
https://suechtignachbuechern.de/2020/04/protagonistencafe-teil-4/
https://suechtignachbuechern.de/2020/03/protagonistencafe-teil-3/
https://suechtignachbuechern.de/2020/02/protagonistencafe-teil-2/
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Coverrechte: Katharina Gerlach, Selma J. Spieweg
Grafiken: Katharina Gerlach, Selma J. Spieweg
Text: Katharina Gerlach, Selma J. Spieweg